warten

Nimm jeden Tag ein leeres Blatt Papier.
Bewarte das Papier, als würdest du es mit Warten beschreiben.
Hänge es anschließend in eine Kirche.

Das ist meine spirituelle Übung zur Fastenzeit.

Warum?

Ich kannte lange fast nur eine Form des Wartens: Das Bekämpfen der Zeit, die uns im Wege steht.

Einmal, als ich gewartet habe, ist mir die Zeit aber zur Freundin geworden und ich habe aufgehört, sie totzuschlagen. Seither suche ich nach anderen Formen des Wartens. Genüssliche, leichte, achtsame und sehnsüchtige. Ich will sie erforschen.

Die Fastenzeit als Vorbereitungszeit auf Ostern und Zeit der Neuorientierung erscheint mir geeignet.


warten – ein Vierzig-Tage-Projekt


Wer möchte mit mir warten?

Wer möchte in der Zeit vom 17.02. bis 03.04. ebenfalls diesen Zustand des Wartens erforschen? Egal ob hin und wieder oder regelmäßig.

gemeinsam online warten

Schick mir eine Nachricht, wenn du auch warten möchtest. Egal, ob einmal oder 40 mal. Ob kariertes, liniertes oder leeres Papier. Oder ganz ohne. Ich halte dich auf dem Laufenden über andere Mitwartende und darüber, was wir entdecken und finden. Und wenn du mir rechtzeitig bewartete Papiere schickst, werde ich sie zu den anderen in die Kirche „St. Maria als“ in Stuttgart hängen.

Kontakt: offschmid(at)gmx.de oder zum Beispiel über facebook.

gemeinsam vor Ort warten

Bis Ende März werde ich jeden Freitag um 17:00 Uhr in der Kirche „St. Maria als“ in Stuttgart öffentlich warten. Ich werde eine Einführung und einen kurzen Impuls geben und dann warten wir eine Zeitlang gemeinsam. Herzliche Einladung!

Wie bewartet man ein Papier?

Im Grunde ist es einfach: Warten und dabei ein weißes Papier leer lassen.

Wie lange? Bleibt jeder*m selbst überlassen. Ich warte so lange bis ich den Eindruck habe, dass das Papier mit Warten gefüllt ist. Meist dauert das zwischen 5 Minuten und einer Stunde.

Bewarten ist wie Beschriften. Nur statt der Schrift die Leere und statt des Inhalts das Warten.

Ich persönlich notiere auf Rückseite in der unteren Ecke Datum, Uhrzeit und Dauer des Wartens.

Persönliche Tipps:

Tee trinken. Auch mal auf und ab gehen. Nicht zu lange warten. Gedanken schweifen lassen und immer wieder sanft ins Hier und Jetzt zurückkommen. Locker bleiben. Genießen.

Beobachte dich und gib auf dich Acht, damit dich das Warten nicht stresst.

Warten ist ein Tun. Es will bewusst beendet werden. Finde einen guten Abschluss. Bedanke dich bei dir!

Wie komm ich dazu?

Ich habe im Sommer mehrere Tage neben einem Stein gewartet (Warten mit Stein). Ich weiß heute noch nicht, worauf. Damals habe ich festgestellt, wie vielschichtig Warten sein kann.

Ich habe den Eindruck, weiter warten zu müssen

Zudem: Seit Januar bin ich Kurator von „St. Maria als“ – Kirche des Dialogs und der Vernetzung, Stuttgart. Ich frage mich: Was erwartet mich? Was will ich? Was kommt? Ich will mir den Stellenwechsel nicht nur erarbeiten, sondern auch erwarten.

Wartegeschichten anderer

Andere warten mit mir. Auf ähnliche oder eigene Art. Einige Beispiele hier: Wartegeschichten.

Dimensionen von Warten

Was ist das: Warten? Etymologische Spuren.

1. wahren, bewahren

„Warten“ hat denselben Ursprung wie das Wort „(be)wahren“. Etwas zu wahren, heißt: einen Zustand aufrechterhalten.

In der Regel wollen wir den Zustand des Wartens aber nicht aufrechterhalten. Wir wollen, dass es aufhört. Warten ist verlorene Zeit, gestohlenes Leben. Wir bekämpfen das Warten.

Was aber haben wir noch zu erwarten, wenn wir das Warten immer bekämpfen?

Wahren heißt nicht bekämpfen. Es bedeutet das Gegenteil: Achten, hüten, schützen, in acht nehmen.

Bewahrende Formen des Wartens

Bewahrende Formen des Wartens könnten sein: Ein Erinnerungsstück aufheben, bis man sich wiedersieht. Jemanden in guter Erinnerung behalten. Die Sehnsucht pflegen. Treue halten. Die Hoffnung aufrechthalten. Achtsam Ausschau halten. Traditionen wahren. „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“

„Ich werde auf dich warten!“ heißt: „Ich werde unsere Beziehung achten, schützen, hüten und bewahren!“

Die Installation in S. Maria als

In der Kirche „St. Maria als“ werden ab Freitag die ersten leeren, bewarteten Papiere im Raum hängen.

„Wahren“ spielt hier eine Rolle.

Ich habe mich gefragt: Was bleibt übrig vom Warten? Hoffnung, Sehnsucht, Ungeduld? Lässt es sich aufbe-wahren? Welche Spur hinterlässt Warten? Daher der paradoxe Versuch, Warten zu bewahren, als wäre es in Papier gespeichert und hinge jetzt in der Schwebe zwischen Himmel und Erde, irgendwo vor Gott, im Raum, wie Wäsche zum Trocknen.

2. die Warte

Die Warte ist der Ort, von wo aus man Ausschau hält. Die Sternwarte, die Leitwarte, die Messwarte.

Auf einer Warte zu sein, den Blick schweifen zu lassen, mit wachen aber entspannten Augen in die Weite zu schauen, das ist, was man auf einer Warte tut: warten.

Warten wie auf einer Warte

Meistens ist Warten geschlossen und zielorientiert: Ich warte auf das Ende der Pandemie (oder zumindest auf die Möglichkeit zur Impfung) darauf, dass die Ampel grün wird, oder das Update fertig ist. Ich bin in der Zeit und in der Situation gefangen. Dieses Warten ist wie Leiden.

Auf einer Warte ist das anders. Ich bin ich der Situation ein Stück weit enthoben. Der Blick vom Gipfel. Überwältigende Sicht. Oft genieße ich es: Im Überblick Zusammenhänge zu sehen, zu erkennen, was sich abzeichnet, mit schweifendem Blick nur kurz an Einzelheiten hängen bleiben sich wieder zu lösen. Leicht. Locker. Gelassen.

Was hilft: Dankbarkeit. Lächeln. Gedanken und Gefühle erkennen und sich freundliche wieder davon lösen. Offen bleiben, wach, empfangend.

3. „Wart mal!“

„Warte mal!“ heißt: Hör auf! Unterbrich deine Handlung!

Diese Bedeutung ist relativ neu. Nicht mehr das Ausharren, sondern das Unterbrechen steht im Vordergrund.

Warten als Unterbrechung

Was tut man, wenn man wartet? Nichts? Ist Warten überhaupt ein Tun? Ist es der Sonntag unter den Verben? Ist Warten eine Pause?

Wie dem auch sei, es heißt auch: Unterbrechen um zu schauen (vgl. Warte). Und damit parallel zu auf-hören: Unterbrechen, um zu horchen.

4. etwas warten (pflegen)

Wartungsarbeiten, Wartungsvertrag, eine Sache warten, …

Warten heißt: nach etwas schauen.
Nach etwas schauen heißt: Sich um etwas kümmern.

Ich warte mich.

Ich lasse mir Zeit, um zu werden.

5. Gegenwart

Gegenwart kommt nicht von warten, sondern von -wärts, wie in ostwärts, vorwärts, aufwärts, rückwärts: „gewendet nach …“

Gegenwärts heißt: sich selbst entgegengewendet.

Ist es nicht ein wundervoller Zufall, dass in Gegenwart „warten“ vorkommt?

6. der*die Wärter*in

Wenn ich warte, bin ich ein Wärter.
Ich bewache. Ich wache. Ich erwache.
Ich behüte mich.
Hüte mich. Etwas zu tun.
Bin mein eigener Zeuge.
Zeuge meiner Tat: Meines Nichts-Tuns.

7. erwarten

Vielleicht lässt sich eine bessere Welt nicht er-schaffen, er-richten, er-arbeiten, er-sinnen, er-kaufen, er-denken, er-bauen, … vielleicht lässt sie sich nur er-warten.

Ich liebe dieses Paradoxon: Schaffen durch Nichts-Tun.

8. wahr

(bitte warten, Text folgt)

2 Kommentare

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Ich finde die Idee großartig und habe eben spontan ein Blatt Papier bewartet. Das werde ich noch häufiger tun und an Freundinnen die Idee weitersenden. Und dann kommt ein Brief mit weißen Wartepapier nach Stuttgart.

Dankbarkeit und ein Lächeln beim Lesen und mich Einfinden in dieses Fastenprojekt, Lebensprojekt. Danke, für diese Impulse, diese Begleitung. Ich fühle mich entspannter und offener und zuversichtlicher…

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