Wie es ist, 12 Stunden lang Nägel fallen zu lassen

Wie versprochen hier mein Erfahrungsbericht zur liturgischen Performance Ruf„. Ich habe zusammen mit Marios Pergialis für jede*n Coronatote*n einen Nagel in eine Schale fallen lassen.

So ging es mir dabei.

Erfahrungsbericht

Kurz bevor es losgeht: Ich blende die Zuschauer*innen und Kamerateams aus. Plötzlich eine Stimme neben mir: „Segen diese Nacht! Sei behütet!“ Dankbarkeit und Sicherheit durchströmt mich.

Die Töne der ersten aufschlagenden Nägel sind brutal, durchdringen den Raum wie der Knall eines in der Nähe einschlagenden Blitzes. Es ist mir schon am Anfang zu viel.

Nach 10 Minuten ist die erste Packung Nägel leer.

Überrascht: Um wie viel melodischer und leiser die kleineren Nägel klingen.

Aggression und Zorn verfliegen. Trauer kommt.

Immer wieder das Gesicht einer jungen Frau aus Berlin vor Augen. Eine Fremde, im Internet gesehen. An Corona gestorben.

Ich bekomme nichts von dem mit, was um mich herum geschieht.

Ich muss die Nägel im Halbsekunden-Rhythmus fallen lassen. Ich bin viel zu langsam.

Marios stellt sich wie besprochen nach einer Stunde zu mir und fängt seine Schicht an. Ich habe noch zwei Pack Nägel zu werfen und überziehe.

Erste Pause. Ich bin verspannt. Mir ist kalt. Ich trinke Kaffee, während mich die Schläge der Nägel begleiten.

Inzwischen sind Marios und ich ganz allein. Das letzte Kamerateam ist schlafen gegangen.

Ich schalte wie abgemacht alle Lichter aus. Nur ein einziger Scheinwerfer bleibt auf die Schale gerichtet. Die Töne werden intensiver. Aber auch weicher.

Meine zweite Schicht. Ich sitze auf dem Boden. Irgendwann wird es friedlich.

Darf es zart und melodisch sein?

Ich liebe die kleinen Nägel. Sie klingen so schön, zart, fein. Ich lasse sie nur wenige Zentimeter fallen. Lege sie fast. Je nachdem wo der Nagel aufkommt, erzeugt er einen anderen Ton. Jeder hat seinen eigenen.

Ich weiß: Es ist richtig, was ich hier tu. Auch wenn ich am Nachmittag in der Kirche beim ersten Ausprobieren des Klangs noch beschimpft wurde: „Das ist ein Haus Gottes! Du bist ein Idiot, ein Penner, Arschloch!“

Die Nägel flüstern und singen: „Es ist gut, was du tust!“

Ich bin dankbar. Wofür? Ich weiß es nicht.

Ich mache einfach weiter. Die Zahl ist so unfassbar. Ich will sie begreifen, anfassen, ich will diese Zahl aufarbeiten, abarbeiten, wegmachen.

Die Versuchung, einfach die Nägel auszukippen. Würde es die Pandemie beenden, wenn ich alle Packungen auf einmal ausschütte?

Was mir am schwersten fällt: Die Nägel einzeln fallen zu lassen. Ich kämpfe nicht gegen Müdigkeit und nicht mehr gegen Verspannung. Ich kämpfe nur noch gegen den Drang, die Nägel zu einem einzigen Fluss verschwimmen zu lassen. Das darf nicht geschehen. Ich muss unbedingt die Nägel einzeln wahrnehmen! Es gelingt mir nicht immer. Sekundenweise wird das Rieseln zum verschwommenen Gesamtgeräusch. Aber auch nach Stunden gelingt es mir über weite Strecken, das Fallen noch in Einzelereignisse aufzulösen.

Ich werde ganz Hören. Noch immer: Jeder Nagel hat seine eigenen Ton. Immer deutlicher.

Diese Zahl ist so unfassbar.

Ich hatte damit gerechnet, abzustumpfen. Ja: Gedanken schweifen ab. Nein: Ich bin nie wirklich weg. Meine Hände sind konzentriert. Die Töne werden nie zum Hintergrundrauschen. Ich höre sie alle. Es ist nie zäh oder monoton. Es sind nur so unfassbar viele Nägel.

Ich hatte damit gerechnet, eine Technik des Fallenlassens zu entwickeln. Aber die Größe Nägel ist von Packung zu Packung anders. Und unterschiedlich große Nägel fallen ganz unterschiedlich aus den Händen.

Inzwischen setze ich mich in den Pausen zu Marios. Wir unterhalten uns manchmal kurz. Nur wenige Sätze. Meist schweigen wir. Hören gemeinsam dem nicht enden wollenden Aufschlagen zu.

Unfassbare Zahl.

Nach 9 Stunden stelle ich fest: Die Töne verändern sich plötzlich. Marios hört es auch. Da ist so etwas wie ein Echo aus dem Inneren des Haufens. Oder rutschen innere Nägel nach? Es klingt wie wenn der Schnee nach dem Aufsetzten des Fußes noch weiter nachgibt. Oder liegt es einfach daran, dass es draußen mittlerweile unglaublich ruhig ist?

Das Zwitschern der ersten Vögel mischt sich in das Klirren.

Meine letzte Schicht.

Ich habe das Gefühl, die Zahl wirklich körperlich begriffen zu haben. Sie ist für mich nicht mehr eine einzige Zahl, sondern sie besteht aus 76.741 Einzelereignissen.

Aber von Minute zu Minute ist mir unbegreiflicher geworden: Was sind so viele Tote? Nicht die Zahl, sondern das Sterben ist mir zur Frage geworden. Jeder einzelne Nagel steht für ein Schicksal, ein (oft langes) Leben, trauernde Angehörige, Ringen mit dem Virus, kämpfende, pflegende, betende, hoffende Menschen. Hinter jedem Nagel ein unendliches Geflecht von Geschichten.

Am Ende begreife ich: Schon ein einzelner Nagel überfordert mich. Ich bin zufrieden und ich kapituliere gleichzeitig.

Am Morgen gehe ich zum ersten Mal aus der Kirche. Ich weine.


Zum Projekt: Ruf

2 Kommentare

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Danke, lieber Sebastian! Jede und jeder Verstorbene in deinen Händen und in deinem Herzen – wie gut, dass ihrer gedacht ist.

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