die Dimensionen von „aufgenommen in Wernau“

Ich wurde gebeten, das Fotoprojekt „aufgenommen in Wernau“ in den Blättern der Wohlfahrtspflege vorzustellen, was ich gern getan hab. Hier der Artikel, in dem ich versucht habe, das Projekt unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

 

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„Aufgenommen in Wernau“ – ein Fotoprojekt mit Flüchtlingen und anderen Bürgern und Bürgerinnen meiner Stadt

Ich habe zwölf Einwegkameras an Flüchtlinge verteilt, die in meiner Heimatstadt Wernau am Neckar untergebracht sind. Zwölf weitere Kameras gab ich anderen Bürgern und Bürgerinnen. Die Aufgabe für alle lautete: Fotografiere die Stadt. Wähle eine Aufnahme aus. Sage, was dir dieses Bild bedeutet.
So kamen insgesamt 24 Bilder zusammen. Sie wurden vergrößert und zusammen mit den Beschreibungen als Ausstellung im Rathaus gezeigt.

Zuerst erscheint diese Aktion als einfaches und unkompliziertes Spiel! Und wenn man es dabei belassen möchte, ist das auch vollkommen legitim. Gleichzeitig besteht auch die Möglichkeit dieses Spiel symbolisch-gleichnishaft unter mehreren Perspektiven zu betrachten. Einige Anregungen:

 

Die philosophische Dimension

Die Fotos zeigen zwar alle dasselbe, die Stadt Wernau, aber doch unterschiedliche Details. Und selbst dort, wo die gleichen Details zu sehen sind (dreimal zeigen zwei unterschiedliche Fotografen fast dasselbe Motiv), werden die Bilder ganz unterschiedlich gedeutet. Die Ausstellung ist damit ein Symbol für die Multiperspektivität der Wirklichkeit: Obwohl alle dasselbe sehen, sieht es jeder anders. Flüchtlinge/andere Bürger, Alte/Junge, Männer/Frauen, Fotografen/Ausstellungsbesucher, jeder sieht die Welt aus seiner eigenen Perspektive. Wer aber hat Recht? Wer sieht es richtig? Wer darf die Stadt Wernau definieren? Wer darf sagen, wie sie sein soll? Wer hat die Deutungshoheit für Heimat? Was ist fremd – für wen? Es gibt nicht die eine Wirklichkeit. Aber es gibt die eine für mich persönlich gültige und wahre Sicht.

 

Politische Dimension

Diese Spannung zwischen individuell-persönlicher Wahrheit und multiperspektivischer Wirklichkeit ist die Grundlage für Toleranz und Demokratie. Wird die Spannung aufgelöst, bleiben entweder Gleichschaltung und Diktatur (nur eine Wahrheit) oder aber die Gesellschaft zerbricht (nur fraktale Wirklichkeit). Dass auch flüchtlingskritische Äußerungen sich auf die Ausstellung berufen, macht mich in diesem Sinn sogar froh. So hat bei einer Informationsveranstaltung der Stadt zur Flüchtlingsunterbringung jemand die Ausstellung folgendermaßen zitiert: „Wie die Fotos ja zeigen, darf jeder seine eigene Sicht haben! Und das ist nun mal meine!“ Nur wenn es gelingt, die unterschiedlichen Sichtweisen (und Deutungen) sozusagen zu einer Gesamtausstellung zusammenzutragen, kann auch der Diskurs über politische Entscheidungen gelingen. An dieser Stelle war mir die Wahl der Einwegkameras wichtig: Sie können nicht manipuliert werden, zeichnen ein ehrliches und nüchternes Bild, was ich in der Politik so manches Mal vermisse.

 

Erkenntnistheoretische Dimension

Die gesamte Aktion ist doppeldeutig: Der Titel „aufgenommen in Wernau“ verweist auf die Aufnahme als Aufgabe: Fotos aufnehmen und Flüchtlinge aufnehmen, beides kann glücken und misslingen, beides unterliegt engen (technischen oder gesetzlichen) Rahmenbedingungen, beides verändert den Blick auf die eigene Stadt. Hier möchte ich auch den Zusammenhang zwischen Sehen und Aufnehmen darstellen. Sehen und Aufnehmen sind wie Henne und Ei: Sehe ich ein Foto, wurde es vorher aufgenommen. Davor wurde das Motiv entdeckt, also gesehen. Sehen ist aber Aufnehmen von Licht. Wie das Licht des Fotos, das ich sehe, … Nehme ich Menschen auf, habe ich ein Bild von ihnen, was sich durch die Aufnahme wieder verändern wird.

 

Dimension von Bildung

Bildung wird meist auf Vermittlung von Wissen reduziert, heißt aber zuerst einmal ganz grundsätzlich: etwas bilden. Muskeln können sich bilden. Oder eine Gruppe. Ein Merkmal. Fähigkeiten oder ein Charakter können sich ausprägen, also ausbilden. Selbst negative Aspekte können sich bilden: Ein Geschwür, eine Verhärtung, eine Blockade. Die Bildungsdimension von „aufgenommen in Wernau“ ist einfach: Wenn sich durch die Aktion und die Ausstellung Bilder verändern oder neue entstehen, hat Bildung stattgefunden.
Zum einen sind Fotos, also tatsächlich Bilder entstanden. Wernau wurde ins Bild gebracht. Durch diese Fotos dürften sich auch andere Bilder verändert haben: Das eigene Bild von Heimat, von Flüchtlingen, von Deutschen. Und dadurch, dass die Motive bekannt sind und Besucher sie wiedererkennen, kommt es unweigerlich zum Vergleich: Was bedeutet dieses Bild dem Fotografen – und was mir? Was sieht er, was ich (noch) nicht sehe? Diese Grundspannung von bekannt und verfremdet ist wiederum symbolisch für die Grundspannung zwischen Fremde und Heimat.
Durch dieses Teilen von Bildern und das Mitteilen von Gedanken und Geschichten bildet sich zudem Beziehung. Dem Flüchtling, dem Deutschen wird ein eigenes Bild zugestanden, unabhängig davon, ob ich die Sicht teile. So wird aus einer Rolle eine Person – eine grundlegende Änderung des Bildes. Es bildet sich so auch die Fähigkeit des differenzierten Betrachtens.
Die Fotografen haben nicht selten auch ein Stück Leben ins Bild gebracht: Orte der Kindheit, Plätze an denen viele Erinnerungen hängen oder die sie an andere Orte erinnern, waren häufig Thema. Es bildet sich erzählbare Lebensgeschichte.
Aber nicht nur die Fotos sind Bilder, die Aktion und Ausstellung selbst ist als ein Bild für Bildung zu verstehen. Bildung heißt dann: wir lernen von- und aneinander, indem wir unsere Bilder und Gedanken zu unseren Bildern teilen. Dadurch verändern wir unsere Vorstellung von Fremdheit, von Heimat und von Wernau und letztlich uns gegenseitig.

 

Dimension Öffentlichkeitsarbeit

Sowohl die Aktion (das Fotografieren) als auch die Ausstellung selbst fanden im öffentlichen Raum statt. Ich habe großen Wert darauf gelegt, unterschiedliche Bürger und Bürgerinnen einzuladen, die vielen Wernauern bekannt sein dürften: Die Leiterin der Bücherei, Engagierte in der Flüchtlingsarbeit, Gemeinderatsmitglieder der Stadt und verschiedener Kirchengemeinden, eine langjährige Kinderärztin. Wohl auch dadurch ist die Resonanz in Presse und Öffentlichkeit groß.

 

Spielerische Dimension

„Aufgenommen in Wernau“ ist eine Aktion nach den Ideen von Playing Arts. Das ist ein Bildungskonzept, das Kunst und Spiel in engem Zusammenhang sieht. Diesem Verständnis folgend war die Aktion von Vorneherein offen für die Elemente von Überraschung, Unsicherheit, Nicht-Planbarkeit und Flexibilität. Es war mir wichtig, den einzelnen Fotografen genügend Sicherheit zu bieten um größtmögliche Freiheit zu ermöglichen. Es ging um ein Spiel der freien Kräfte innerhalb eines festen Rahmens. Klare und einfache Spielregeln waren mir hier besonders wichtig. Auch die einfachen und fast schon engen technischen Möglichkeiten waren hier hilfreich. Die Aktion sollte für alle Beteiligten den spielerischen Charakter des Spannenden, Lustigen und Interessanten behalten: Das Warten, bis die Fotos entwickelt waren, das Vergleichen, was Andere fotografiert haben und was sie dazu sagen werden. Überraschend war für mich auch die Ernsthaftigkeit, mit der das Spiel mit Worten, die die Bilder beschreiben sollten, geführt wurde. Viele meldeten sich öfter bei mir, um ihre Texte noch einmal abzuändern oder poetischer zu gestalten. Nicht nur die Bilder, auch die Texte wurden entwickelt.

 

Künstlerische Dimension

Künstlerisch bin ich inspiriert von Jenny Holzer, Ai Weiwei, Joseph Beuys, Barbara Kruger vor allem aber von Roman Ondák, der in seinem Werk ebenfalls andere Menschen bittet, nach seinen Ideen und Regeln Dinge zu machen, die in ihrer Gesamtheit als Kunstwerk zusammenwirken. Das „Material“ dieser auch Konzeptkunst genannten Kunstform ist in erster Linie die Idee selbst. In diesem Fall vereinigt sich dieses Konzept mit den Bildern und Texten jedes Fotografen, welche voll, ganz und zu Recht auch ohne dieses Gesamtkonzept für sich selbst sprechen können.
Auch Beuys‘ erweiterter Kunstbegriff, der Kunst auch auf gesellschaftliche Entwicklungen und Gestaltung sozialer Beziehungen anwendet, ist für mich hier von Bedeutung gewesen.

 

Symbolische Dimension gleicher Rechte

Durch das Festlegen der Regeln habe ich auch eine weitere Aussage getroffen: Flüchtlinge haben das gleiche Recht auf eine eigene Sicht auf unsere gemeinsame Stadt, wie alle anderen Bürger und Bürgerinnen auch. Dieser Aspekt war mir im Grunde der wichtigste.

 

Die Ausstellung „aufgenommen in Wernau“ wurde unterstützt vom Freundeskreis Flüchtlinge Wernau und von der Stadt Wernau am Neckar.

 

Foto: Sebastian Schmid, Motiv: Foto von Salieh Abdu

 

Der Artikel ist erschienen in Blätter der Wohlfahrtspflege. Deutsche Zeitschrift für Soziale Arbeit. 5 2016 (September/Oktober). Bilder der Aktion „aufgenommen in Wernau“ sind hier zu finden.