Mit einer Geschwindigkeit von weniger als einem halben Millimeter in der Sekunde gleitet mein Bleistift übers Papier. Langsamer kann ich nicht, ohne dass die Mine sich auf dem leicht porösen Papier verhakt und anhält. So gesehen ist es gar kein Gleiten. Bei dieser langsamen Geschwindigkeit wird die Linie unweigerlich torkelnd und krakelig.
Als ich mit dem Bild angefangen hab, wusste ich noch nichts von meinem Entschluss, so langsam wie möglich zu zeichnen. Ich hab eine kleine Linie gezogen. Und dann noch eine. Aber am Ende dieses zweiten Strichs, bleibt meine Hand einfach liegen. Der Stift setzt nicht ab. Er verharrt kurz auf der Stelle, und beginnt ganz langsam umzukehren. Wirklich langsam. Und dann ist die Idee da: Ich werde eine Linie zeichnen, so langsam als möglich, aber ohne anzuhalten und ohne abzusetzen. Und ich tu es. Immer weiter. Nach ungefähr fünf Minuten (oder waren es zehn?) kehre ich um. Später noch einmal. Und noch einmal. Und immer wieder.
Ich spüre den Impuls, schneller zu zeichnen. Wozu diese sinnlose Vergeudung von Lebenszeit? In nicht einmal einer Sekunde könnte ich drei, vier, fünf Kehrtwenden ziehen, die mich so aber viele Minuten kosten – jede einzelne. Warum setze ich dem nicht mit einem schwungvollen Zug des Stiftes ein Ende? Ich kenne die Antwort: Weil es nicht dasselbe Bild wäre! Vielleicht wäre die Mine nachher am selben Punkt des Papiers. Aber die Zeichnung wäre nicht auf diese Art gereift. Es geht ums Warten. Und darum, die Zeit auszuhalten, die Zähigkeit, mit der sie fließt. Aber auch ihre Fülle mit der sie da ist, und nicht schon wieder weg.
Mit Papier und Stift in der Hand stehe ich auf. Ohne aufzuhören den Bleistift zu schieben. Ja, mittlerweile ist es ein Schieben, Drücken, Zerren. Ich gehe umher. Winzige Schritte in gleichmäßigem Rhythmus. Ich gehe durch die dunkle Kirche (denn dort befinde ich mich). Den Seitengang entlang, durch die Bankreihen, die Treppe zur Empore hoch. Ich frage Gott, wie sein Tag war. Wir unterhalten uns. Wir haben ja beide Zeit im Moment.
Zuerst verkrampft mein linker Arm, mit dem ich das Papier halte. Ich lege das Papier ab – ohne das Zeichnen zu unterbrechen – und strecke meinen Arm, dehne die Muskulatur. Wie lange werde ich durchhalten? Worauf läuft das hinaus? Ich versuche, mein Smartphone aus der Tasche zu holen, um die Uhrzeit zu sehen. Gegen wen spiele ich hier? Ich zeichne wohl schon fast eine Stunde. Wie beende ich das? Was passiert dann? Worauf warte ich?
Ich finde keine Antworten. Nur Fragen. Also mache ich vorerst weiter.
Bis ich irgendwann das Gefühl habe, ich könnte jetzt fertig sein. Ich murmle etwas Unverständliches, was ich mittlerweile auch vergessen habe.
Ich bin angekommen.
Noch mehr langsame Linien und das ganze Projekt hier.